Entwicklung der Lesekompetenz
Die Lese-Superkräfte
Die Lesekompetenz setzt sich aus verschiedenen Teilfertigkeiten zusammen. Kinder, die lesen können, sind in der Lage, visuelle Reize zu erkennen und zu unterscheiden. Sie können lautliche Sprachstrukturen wahrnehmen und bewusst nutzen. Sie beherrschen die graphomotorischen Fertigkeiten, um gezielte Schreibbewegungen ausführen zu können. Je flexibler Kinder beim Lesen werden, desto seltener müssen sie die einzelnen Wörter erlesen, sondern erkennen sie als Ganzes. Dies wird zusätzlich durch eine kontinuierliche Erweiterung des persönlichen Wortschatzes unterstützt. Eine Automatisierung des Leselernprozesses führt zu einer erhöhten Lesegeschwindigkeit, die – in Kombination mit allen anderen Teilfertigkeiten – dazu beiträgt, dass Kinder Texte aller Art sinnerfassend lesen, verstehen und individuell nutzen können.
Für Kinder ist es schwierig, sich etwas unter dem Konzept der phonologischen Bewusstheit oder unter der Graphomotorik vorzustellen. Werden die einzelnen Teilfertigkeiten hingegen in Form von Lese-Superkräften wiedergegeben, können Kinder ein besseres Verständnis dafür entwickeln. Im besten Fall setzen sie sich aktiv mit ihren Superkräften auseinander und sind bestrebt, ihre eigenen Stärken fortlaufend auszubauen.
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Der Superblick
Lesen beginnt bei der Fähigkeit, visuelle Reize wahrzunehmen, voneinander zu unterscheiden und zu interpretieren.
Während des Lesens können verschiedene Augenbewegungen beobachtet werden. Es wird dabei zwischen Fixationen, Sakkaden und Regressionen unterschieden. Fixationen beziehen sich auf das Ruhen des Auges auf einem Punkt. Informationen werden ausschließlich während einer Fixation aufgenommen. Fixiert werden vor allem Wörter, die Inhalte transportieren, wie Nomen, Verben und Adjektive. Wörter, die häufig in unserem Wortschatz vorkommen, werden weniger und deutlich kürzer fixiert. Sakkaden bezeichnen die Vorwärtssprünge und Regressionen die Rückwärtssprünge, die wir während des Lesens machen. In beiden Fällen kommt es zu keiner Informationsaufnahme. Wie lange eine Fixation dauert, hängt von der Lesekompetenz ab. Schnelle und gute Leserinnen und Leser weisen kürzere Fixationen sowie eine geringe Anzahl an Regressionen auf. Bei schwächeren Leserinnen und Lesern kommt es hingegen zu einer hohen Anzahl an Regressionen, die den Lesevorgang beträchtlich verlangsamen. Gründe für Regressionen können eine fehlende Wort- und Satzkenntnis sowie ein fehlender Sinnzusammenhang, aber auch Konzentrationsschwierigkeiten, Stress oder sogar Angst sein.
Der Superblick kann trainiert werden. Ob mit Buchstaben, Ziffern, Symbolen oder Bildern, es geht in erster Linie darum, den Blick zu schärfen, Unterschiede mühelos zu erkennen und eine entsprechende Interpretation der visuellen Reize rasch vornehmen zu können.
Das Fingerspitzengefühl
Ein erfolgreicher Schriftspracherwerb ist dann möglich, wenn der Erstleseunterricht unmittelbar mit dem Schreibunterricht verbunden ist. Beim Erlernen des Lesens, Schreibens und Rechtschreibens handelt es sich um einen kontinuierlichen Entwicklungsprozess. Lesen und Schreiben als voneinander getrennte Techniken zu betrachten, ist kontraproduktiv. Nur wenn Lese- und Schreiblernprozess ineinander greifen, können sie voneinander profitieren.
Am Beginn des Schriftspracherwerbs sind die Schreibbewegungen charakterisiert durch Druckstärke, Langsamkeit und Versteifung. Je häufiger ein Kind die Möglichkeit hat, seine Schreibbewegungen zu trainieren, desto schneller schleifen sich die Bewegungen ein und resultieren schließlich in einer Bewegungsmelodie für jeden Buchstaben. Essentiell dabei ist, Schreiben nicht nur als rein motorische Leistung zu betrachten, sondern in seiner Komplexität und Gesamtheit zu verstehen. Es geht um eine Kombination von Schreibbewegung, Raumgestaltung, Form- und Sinngebung, Sprachbildung sowie Sprachbewusstsein.
Die Bedeutung des Schreiblernprozesses für den Leselernprozess ergibt sich eben aus dieser Komplexität. Werden Lesekompetenz und Fingerspitzengefühl gleichermaßen trainiert, kann die produktive Leistung des Schreibens wesentlich zur Festigung verschiedener Lesefertigkeiten beitragen.
Das Ultragehör
Noch vor dem Eintritt in die Schule entwickeln Kinder eine phonologische Bewusstheit. Darunter versteht man die Fähigkeit eines Menschen, auf die formalen Eigenschaften der gesprochenen Sprache zu achten. Die Entwicklung dieser Bewusstheit kann durch das Bilden von Reimpaaren, durch Fingerspiele, Silbieren und Segmentieren sowie durch das Isolieren von Einzellauten unterstützt werden. Sobald Kinder in der Schule mit dem Leselernprozess beginnen, geht es darum, den verschiedenen Lauten entsprechende Buchstaben beziehungsweise Buchstabenkombinationen zuzuordnen. Schrittweise erhalten sie immer mehr Einblick in die Graphem-Phonem-Korrespondenz, das heißt in die Zuordnung der Buchstaben zu den einzelnen Lauten.
Das Ultragehör zu trainieren, ist für die Entwicklung der individuellen Lesekompetenz von großer Bedeutung. Die Kinder lernen dabei, Laute zu erkennen und voneinander zu unterscheiden. Eine wichtige Rolle spielt außerdem das Zusammenlauten mehrerer Buchstaben. Gelingt das Verschleifen der Laute, kann dem Wort durch Zurückgreifen auf das semantische Lexikon eine Bedeutung zugewiesen werden.
Der Ganzwortscanner
Am Beginn des Leselernprozesses ist ein synthetischer Leseunterricht am sinnvollsten. Im Zuge dieses Unterrichts lernen Kinder Schritt für Schritt, wie die einzelnen Buchstaben und Buchstabenkombinationen mit den dazugehörigen Lauten verbunden sind. Indem sie das Zusammenlauten üben, erwerben sie zudem die Fähigkeit, sich unbekannte Wörter durch Erlesen zu erschließen.
Je öfter ein Kind einem Wort begegnet, desto schneller wird dieses Wort während der Automatisierungsphase in die sogenannte „Ganzworterkennung“ aufgenommen und im Gedächtnis gespeichert. Dieses Wort muss dann nicht mehr erlesen werden, sondern wird auf einen Blick in seiner Form und Bedeutung erkannt.
Mit jedem Wort, das rasch erkannt wird, können Kinder sicherer und schneller lesen. Gezielte Übungen fördern den Ausbau des Ganzwortscanners und tragen wesentlich dazu bei, dass vor allem häufig gebrauchte Wörter in ihrer Ganzheit wahrgenommen werden und lediglich unbekannte Wörter über Segmentierung erschlossen werden müssen.
Der Wörterspeicher
Im Alter von 6 Jahren stehen einem Kind circa 14 000 Wörter zur Verfügung. Mit dem Eintritt in die Schule wird der Wortschatz kontinuierlich erweitert. Bis zum 16. Lebensjahr steigt er auf ungefähr 60 000 Wörter an.
Unser gesamtes Wortwissen wird im „mentalen Lexikon“, einem Teil des Langzeitgedächtnisses, gespeichert. Um ein Wort so abspeichern zu können, dass es jederzeit abgerufen und flexibel genutzt werden kann, bedarf es weiterer Informationen: Wie wird das Wort ausgesprochen (Phonologie), wie wird es geschrieben (Orthografie), aus welchen Wortbausteinen besteht es (Morphologie), was bedeutet es (Semantik) und welchen Platz beziehungsweise welche Funktion nimmt es grammatikalisch im Satz ein (Syntax)?
Um den Wortschatzumfang zu steigern, sollte die tägliche Wortschatzarbeit fixer Bestandteil des Unterrichts sein, nicht zuletzt weil ein entsprechender Wortschatz auch eine positive Auswirkung auf die Lesekompetenz hat. Je mehr Einträge sich im Wörterspeicher befinden, desto mehr Wörter erkennen Kinder beim Lesen wieder. Dies führt automatisch zu einem sichereren und flüssigeren Leseprozess.
Die Lesehöchstgeschwindigkeit
Um den Sinn eines Textes erfassen zu können, bedarf es einer gewissen Lesegeschwindigkeit. Kinder, deren basale Lesefertigkeiten – das heißt, die Fähigkeit, Buchstaben zu identifizieren und sowohl auf der Buchstaben-, Wort- und Satzebene verorten zu können – schwach ausgeprägt sind, lesen langsamer, weil sie den Leseprozess noch nicht automatisiert haben. Sie können viele Wörter nicht auf einen Blick als Ganzes erkennen, sondern müssen sie mühevoll erlesen. Dies hat eine beträchtliche Auswirkung auf ihre Lesegeschwindigkeit und damit auch auf das Textverständnis.
Flüssige Leserinnen und Leser haben gut ausgebildete basale Lesefertigkeiten, die es ihnen erlauben, Buchstaben und Wörter in kurzer Zeit zu erkennen und zu benennen. Die Zeit, die sie aufgrund ihrer Lesekompetenz gewinnen, kann zum Entschlüsseln, Verstehen und Mitfühlen genutzt werden. Lesen wird dann schnell nicht nur als etwas Sinnvolles, sondern vor allem als etwas Genussvolles erlebt.
Die Lesehöchstgeschwindigkeit ist unmittelbar an die Fähigkeit, Texte sinnerfassend zu lesen, gebunden und sollte daher auch aktiv trainiert werden.
Außergewöhnliche Verstehensgabe
Ziel beim Lesen ist es, den Sinn zu erfassen. Wir lesen, um uns zu informieren und weiterzubilden, um zu träumen und um in andere Welten einzutauchen. Über das Lesen erschließt sich uns eine neue Dimension des Erlebens. Bücher erlauben es uns, aus dem Alltag auszubrechen, Neues zu erforschen und über unsere eigene Wirklichkeit hinauszudenken und zu -wachsen.
Um Texte aller Art lesen und verstehen zu können, benötigen wir verschiedene Lese-Subfertigkeiten, die wir – je nach Kontext – bewusst einsetzen, um einem Text gezielt Informationen zu entnehmen. Je flexibler wir in der Anwendung dieser Subfertigkeiten sind, desto schneller und besser können wir an einen Text herangehen. Literarische Texte werden anders gelesen als Sachtexte. Kohärente Texte unterscheiden sich nicht nur in ihrer grafischen Aufbereitung von diskontinuierlichen Texten. Nicht immer ist es notwendig, einen Text von Anfang bis zum Schluss zu lesen. Manchmal genügt es, Texte zu überfliegen oder lediglich auf Schlüsselwörter zu scannen.
Um ihre außergewöhnliche Verstehensgabe zu stärken, sollten Kinder von Beginn an nicht nur lesen, um ihre basalen Lesefertigkeiten zu trainieren, sondern um sich mit dem Text und seiner Botschaft auseinanderzusetzen. Es geht darum, sie mit den unterschiedlichsten Textsorten zu konfrontieren und sie beim Erwerb der einzelnen Lese-Subfertigkeiten – vom überfliegenden bis hin zum intensiven Lesen – zu unterstützen.
Handreichung „Entwicklung der Lesekompetenz“
Die vorliegende Handreichung bietet einen Überblick über die Entwicklungsphasen des Leselernprozesses. Anschließend werden die Lese-Superkräfte beschrieben. Aufgabenbeispiele veranschaulichen, welche Übungen bei der Entwicklung der einzelnen Superkräfte hilfreich sein können. Den Abschluss der Handreichung bildet eine Beschreibung des RCAE Lese-Konstrukts in Kombination mit einem Textbeispiel, anhand dessen gezeigt wird, wie bestimmte Fragen formuliert werden können, um gezielt einzelne Lese-Subfertigkeiten anzusprechen.
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