Es ist eine Frage der Verantwortung
Ein Kommentar anlässlich des Bundesergebnisberichts D4, 2015
Es ist faszinierend, wie die seit einigen Jahren in regelmäßigen Abständen veröffentlichten Bildungsberichte zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Wirtschaft immer wieder aufs Neue dazu motivieren, ihren vermeintlichen Erkenntnissen auf dem Rücken unserer Kinder freien Lauf zu lassen.
Wenn dann von „katastrophalen Entwicklungen“ oder der Notwendigkeit „revolutionärer Konzepte“ die Rede ist, schütteln halbwegs vernünftige Bürgerinnen und Bürger wohl nur mehr den Kopf. Zu oft schon haben wir gehört oder gelesen, dass unsere Kinder und Jugendlichen Defizite im Lesen, Schreiben, Rechtschreiben oder Rechnen aufweisen. So oft, dass wir derartigen Meldungen aufgrund des Gefühls der Ohnmacht, das wir womöglich über die Jahre entwickelt haben, keinerlei Bedeutung mehr beimessen.
Die Situation scheint ziemlich ausweglos. Hohle Phrasen und leere Versprechungen von Seiten der Entscheidungsträgerinnen und -träger, deren Interesse an der Bildung unserer Kinder genau so lange anhält, bis das letzte Wahlplakat von den Straßenrändern verschwunden ist. Jede langfristige Verpflichtung und ehrliche Bemühung entspricht für Politikerinnen und Politiker eher einem Verlustgeschäft – also wozu auch sollten gerade sie in die Zukunft investieren?
Zudem ist es recht schwierig, sich über Veränderungen und Lösungen Gedanken zu machen, wenn sich die Diskussion stets in der für Österreich so charakteristischen Defizitorientierung verliert. Eine zusätzliche finanzielle Investition wäre eine mögliche Lösung. Im Vergleich zu anderen Ländern lebt Österreich hinsichtlich der Kosten, die das Bildungssystem verursacht, auf recht großem Fuß und dennoch gibt es nur begrenzt Mittel für Dinge, die wirklich von Bedeutung wären. Mehr Unterstützung für sozial benachteiligte Kinder, für Kinder aus zerrütteten Familien, für Kinder mit Leistungsschwächen und für Kinder mit besonderen Bedürfnissen – mehr Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Psychologinnen und Psychologen sowie administrative Kräfte an unseren Schulen, damit sich die Lehrerinnen und Lehrer auf ihre eigentliche Arbeit konzentrieren und unseren Kindern wichtige Inhalte, Fertigkeiten und Fähigkeiten vermitteln können. Darauf zu hoffen oder gar zu warten, scheint – die Entwicklung unseres Schulsystems über die Jahrzehnte hinweg beobachtend – allerdings recht naiv, wenn nicht sogar vergebliche Liebesmüh zu sein.
An dieser Stelle lediglich mit den Schultern zu zucken und schön im gewohnten Takt weiterzumachen, sollte für jeden inakzeptabel sein, der schon einmal ein Kind beobachtet hat, das nicht gut lesen kann. Der gesehen hat, wie sich sein Körper verkrampft, wie der Kopf unaufhörlich vom linken Seitenrand zum rechten wandert und wie es verzweifelt Finger oder Lineal zu Hilfe nimmt, weil es sich anderenfalls ständig in der Zeile irren würde. Der mitansehen musste, wie es sich abmüht, die kürzesten und einfachsten Wörter zu erfassen, und wie es – wenn die Anstrengung schließlich unerträglich wird – den Text, erfüllt von Traurigkeit und Zorn, ablehnend zur Seite schiebt.
Schulischer und persönlicher Erfolg wird dort ermöglicht, wo Eltern und Lehrerinnen und Lehrer eine Partnerschaft eingehen und zu gleichen Maßen Verantwortung übernehmen. Die Lehrerinnen und Lehrer dafür, ihre Schülerinnen und Schüler zu begeistern, zu motivieren und auf ihrem Weg wertschätzend und respektvoll zu begleiten. Und die Eltern dafür, dass ihre Unterstützung ebenso notwendig ist wie die der Lehrerinnen und Lehrer. Eltern, die der Meinung sind, Kindergarten und Schule seien allein für die Bildung ihrer Kinder zuständig, haben noch nicht begriffen, dass sie die wichtigsten Vorbilder im Leben ihrer Kinder – zumindest in den ersten Lebensjahren – sind und dass alles, was sie ihren Kindern vorleben, einen unmittelbaren Einfluss auf deren Entwicklung hat. Daher verwundert es umso mehr, dass sich Eltern beispielsweise bei der Vermittlung diverser Sportarten verhältnismäßig viel Zeit für ihre Kinder nehmen, aber das Lesetraining einzig der Lehrerin überlassen wollen. Wenn wir unseren Kindern Radfahren beibringen, unterstützen wir sie auch so lange, bis sie selbstständig und ohne Probleme fahren, bremsen, auf- und absteigen können. Genauso verhält es sich mit dem Lesen. Wir sollten unsere Kinder so lange dabei unterstützen, bis sie die grundlegenden Lesefertigkeiten erworben haben, die nötig sind, um eigenständig und problemlos verschiedenste Texte und Inhalte erschließen zu können.
Lesen zu lernen ist nicht einfach. Für manche Kinder ist es sogar so mühsam, dass sie mitten am Weg die Lust dazu verlieren. Wer jedoch heutzutage nicht lesen kann, kann leider auch nicht zur Gänze am Bildungsgeschehen oder generell am gesellschaftlichen Geschehen teilnehmen. Ohne die Fähigkeit, gut und flüssig zu lesen, bleiben einem Menschen bestimmte Türen für immer verschlossen.
Erwachsene, die sich bewusst dafür entscheiden, Kinder beim Lesenlernen zu unterstützen, nehmen genau diese Verantwortung wahr. Das gilt für alle, die einen Einfluss auf die schulische Entwicklung eines Kindes haben.
Bettina Wohlgemuth-Fekonja